Muay Thai: Verwandle deinen Körper in eine Waffe
von Kai Mühlenhoff, im Juli 2019
Meine Geschichte des Muay Thai. Als ich nach Thailand ging, suchte ich Sonne, Strand und Zerstreuung. Ich fand weit mehr: eine neue Leidenschaft und diese weckte den Geist des Kriegers in mir. Ich lernte die thailändische Nationalsportart Muay Thai (Thaiboxen) kennen, das den Körper zu einer unglaublich effektiven Waffe macht – gefährlich für den Gegner im Ring und optimal für die eigene Sicherheit.
Am Abend vor dem Rückflug von einem ausgedehnten und entspannten Aufenthalt im März 2016 auf der oft wegen ihrer Vielzahl an Palmen und einsamen Stränden als paradiesisch beschriebenen Urlaubsinsel Koh Samui und als ein gewisses Highlight, das den Abschluss eines gelungenen Urlaubs bilden sollte, besuchte ich im größten Muay Thai-Stadion der Insel eine Thaibox-Veranstaltung mit sechs in kurzer Reihe aufeinanderfolgenden Kämpfen. Beinahe schon vollständig gesättigt von neu gewonnenen Eindrücken meiner ersten Asienreise, fand ich mich pünktlich auf meinem Platz ein und sog die Atmosphäre im sich allmählich füllenden Stadion auf. Es ging los: Das Erheben der Zuschauer von ihren Plätzen beim Spielen der thailändischen Nationalhymne, der Einmarsch der Kämpfer des ersten Kampfes des Abends, allem Anschein nach Kinder von vielleicht 13-14 Jahren. Dann erreicht die Musik die Ohren – rhythmische Beats von Trommeln, Zimbeln, und scharfe, durchdringende Klänge von Pfeifen indischen Ursprungs, die an jene von Schlangenbeschwörern, die Kobras hypnotisieren, erinnern. Diese Musik heißt Sarama, eine traditionelle Melodie, die die Kämpfer während des gesamten Kampfes begleitet und ohne die ein Muay Thai-Kampf kein Muay Thai-Kampf wäre. Sie setzt vor dem Kampf ein, beim Betreten des Rings, während der daraufhin folgenden Begrüßungszeremonie, dem Ram Muay und dem rituellen Tanz der Thaiboxer, dem Wai Khru, mit dem die Boxer ihre Trainer, Trainingscamp, Eltern und was sie sonst noch für wertvoll und schützenswert halten, ehren. Mit der Zeit, wenn mit dem Tempo des Kampfes im Ring die Musik beschleunigt, wird diese zu einem integralen Bestandteil des Spektakels. Das deutlich im Zuschauerraum vernehmbare Klatschen, wenn ein Kick mit dem Schienbein mit voller Härte auf den Rumpf des Gegners trifft: Ich war es, der ob dieser vielen Eindrücke wie hypnotisiert war…
Schon der dritte Kampf des Abends endete in der 3. Runde abrupt und dem Verlauf nach überraschend mit einem Knockout eines jungen Tschechen gegen einen Thai. In der kurzen Pause, die dann folgte – der Thai musste kurz untersucht und dann aus dem Ring getragen werden – kam ich mit einem jungen Kanadier ins Gespräch. Dieser stellte mir die Frage, die in der Folge einen nicht unwesentlichen Einfluss auf mein Leben haben sollte: „Sag mal“, fragte er mich, „weißt Du eigentlich, dass die Kämpfer von heute Abend größtenteils von den vielen Muay Thai Camps auf der Insel stammen, und man sie für ein Taschengeld für private Trainingssessions buchen kann?“ – Nein, wusste ich nicht! ich war zu diesem Zeitpunkt völlig ahnungslos, aber der Gedanke, sich von einem dieser perfekt durchtrainierten jungen Kämpfer, deren Fertigkeiten und Kampfgeist ich gerade noch im Kampf bewundert habe, trainieren zu lassen, ließ mir von da an keine Ruhe mehr. Ich hatte zu der Zeit schon ein paar Jahre Erfahrungen im Boxen und noch ein paar Jahre länger im Body Combat, bei dem auch Elemente aus dem Muay Thai vorkommen, und darüber eine gewisse Affinität zum Kampfsport entwickelt. Im Vordergrund standen hierbei jedoch eher der Fitnessaspekt und Spaß und weniger darüber hinaus gehende Ambitionen. Die Möglichkeit, Muay Thai in Thailand aus erster Hand von thailändischen nak muay, wie die Thaiboxer genannt werden, zu erlernen, schien mir doch allzu verlockend, und so fand ich mich schon wenige Monate später erneut auf der Insel wieder, die sich relativ rasch und ohne es anfangs so richtig zu bemerken, zu meinem Sehnsuchtsort entwickelte. Mittlerweile habe ich ein Haus zur Dauermiete in Phang Ka, einem ruhigen 240-Einwohner Dorf an der Südküste Samuis, und verbringe dort, wo die Palmendichte am höchsten ist, und der Massentourismus, der die Insel spätestens seit Anfang des Jahrhunderts ereilt hat, weniger spürbar, so viel Zeit im Jahr, wie es mir nur möglich ist. Dann trainiere ich im Lamai Muay Thai Camp, manchmal auch bei Yod Yut, oder fast bei mir vor der Haustür im Taling Ngam Muay Thai Gym. Auf dem Festland bin ich einmal im Jahr für ein paar Tage bei Phetsimueang in Thung Song in der Provinz Nakhon Si Tammarat, im traditionsreichen Gym des bekannten Boxpromoters Wittaya, ein echtes kaimuay (d.h. die Jungen wohnen, essen, schlafen und trainieren dort zusammen), aus dem schon viele namhafte Champions hervorgegangen sind.
Muay Thai – kurze Geschichte
Muay Thai wurde während der antiken Kriege zwischen Siam (wie Thailand noch bis 1939 hieß) und Burma auf den Schlachtfeldern geboren und ist heute in ganz Südostasien sehr beliebt. Es ist ein thailändisches Erbe, fester Bestandteil der thailändischen Kultur, und soll, wenn es nach dem thailändischen Bildungsminister geht, vom Vater zum Sohn weitergegeben werden. Das ultimative Ziel ist es, den Gegner kampfunfähig zu machen. Die frühe Entstehungsgeschichte des Muay Thai ist relativ unpräzise und verschwommen. Der Legende nach jedoch geriet der Krieger Nai Khanom Tom 1774 bei der Plünderung der antiken Hauptstadt Ayutthaya in burmesische Gefangenschaft und konnte, nachdem vom burmesischen König ein entsprechendes Angebot unterbreitet wurde, und er aufgrund seiner Kampfeskunst von den Seinen ausgewählt wurde, zehn Burmesen hintereinander besiegen, und sich und seine Leute so frei kämpfen. Hier erfahren Sie mehr über die Geschichte des Muay Thai.
Welches es in der Kategorie der schönsten und spektakulärsten Formen der Selbstverteidigung auf das Podium bringt. Einen großen Eindruck verleihen dem Ganzen die Traditionen und Riten. Die farbenfrohe Ausstaffierung der Kämpfer, zum Beispiel, in ihren bunt-verzierten Hosen, dem mongkon, ein dreifach von buddhistischen Mönchen geweihter Ring, der um den Kopf getragen wird, und Prajied, den bunten Bändern, die um die Oberarme gebunden sind. Es ist überliefert, dass diese Bänder damals aus dem Kleid der Mutter der Krieger geschnitten waren, auf dass sie ihre Söhne im Kampf beschützten. Dazu die zuvor erwähnte Musik oder der faszinierende rituelle Tanz des Wai Khru (übersetzt „Gruß an den Lehrer“), der bei jedem Boxer unterschiedlich ist, und an dem sich erkennen lässt, aus welcher Region und vielleicht sogar aus welchem Trainingscamp er kommt. Der Wai Khru hat auch einen psychisch wie physisch wettkampfvorbereitenden Zweck, wie der Einstimmung auf den Kampf und das Dehnen der Muskulatur. Berühmt für seinen Wai Khru war zum Beispiel Namsaknoi, ein Fighter aus dem sogenannten Golden Age des Muay Thai der Zeit der 90er und Nullerjahre, das von Kämpfern mit herausragender Technik gespickt war. Mancher Thaiboxer kopiert auch Elemente aus dem Frauen-Ram Muay zur Belustigung der Zuschauer, die dann noch lange über ihn sprechen und er ihnen so länger in Erinnerung bleibt. Heutzutage wird der Wai Khru leider jedoch häufig nur noch verkürzt dargestellt und nimmt auch in der Ausbildung der Thaiboxer einen geringeren Stellenwert ein, so dass viele Elemente der schönen Tradition bereits verloren gegangen sind. Schuld daran sind auch die steigende Anzahl an TV-Übertragungen und Kampfserien wie Max Muay Thai oder Thai Fight oder 3-Runden Kämpfe, denen ein ausführlicher Wai Khru, um immer mehr Kämpfe zeigen zu können, zum Opfer fällt.
Ebenso umwerfend ist die Atmosphäre rund um den Ring, spontane Reaktionen des Publikums, die ihren Emotionen mit lauten Rufen freien Lauf lassen. Und wenn jemandem noch immer Eindrücke fehlen sollten, gibt es das Glücksspiel. Es ist schwer vorstellbar, dass eine Muay Thai-Veranstaltung ohne Beteiligung von Buchmachern stattfindet, die Wetten auf den Tribünen sammeln. Man findet die Wetter oft an einer Seite des Rings in einer großen Traube versammelt. Hier werden die Wetten entgegengenommen und im Laufe des Kampfes hektisch und mit lauten Rufen begleitend per Handzeichen verändert und das Bild, das sich in diesem Trubel ergibt, erinnert irgendwie an das Parkett der Frankfurter Börse aus längst vergangenen Zeiten, bevor Computer die Broker ersetzt haben. Als Nicht-Thailänder wird einem allerdings von der Teilnahme an Wetten abgeraten. Die Wahrscheinlichkeit abgezockt zu werden ist hoch, wenn man sich nicht auskennt, und die Polizei lässt bei vielen Dingen, wie unter anderem im Straßenverkehr, ihren eigenen Landsleuten viel durchgehen und streicht bei Ausländern gern mal hohe Strafen ein. Denn eigentlich ist Glücksspiel in Thailand gesetzlich verboten – eigentlich, aber unternommen seitens der Ordnungshüter wird im Grunde nichts. Prostitution ist in Thailand übrigens auch verboten, dies nur am Rande, wird aber, nun ja, wie soll man es ausdrücken, „hochgradig toleriert“. Trotz all der Tragik irgendwie komisch, wenn, wie letztens, die Polizei von Pattaya ganze Straßenzüge mit einschlägigen Etablissements durchsucht, um hinterher zu kommunizieren, dass sich „keine Anzeichen für Prostitution“ finden ließen. Groteskerweise wird alljährlich auf dem Gelände der Bangkoker Polizei ein Muay Thai-Turnier ausgetragen und wie selbstverständlich auch hier ganz unverblümt und in aller Öffentlichkeit auf die Kämpfe gesetzt, ohne dass sich auch nur einer bequemen würde, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Es werden eben von offizieller Seite aus gern beide Augen zugedrückt. Auch das ist Thailand! Leider muss in diesem Zusammenhang auch ein Aspekt erwähnt werden, der das Wetten zwangsläufig mit sich bringt, und an den ich mich wohl nie richtig gewöhnen werde, den es mir aber zum Glück die meiste Zeit über gelingt, erfolgreich zu verdrängen. Das ist die Illusion, dass es sich bei allen Kämpfen um einen fairen Wettkampf handelt. Häufig wird der Sieger eben nicht in sportlich-fairem Kampf ermittelt, sondern es ist ein abgekartetes Spiel und die Buchmacher entscheiden schon im Vorfeld darüber, wer siegreich aus einem Kampf hervorgehen soll. Oft bekommen die Boxer einen Teil der Seitenwette. Da ich mich damit aber nicht näher beschäftige, kümmert es mich nicht auch nicht weiter, ansonsten könnte ich mir wohl auch keinen Kampf mehr ansehen. Man unterschätze eben nie die Macht der Verdrängung!
Muay Thai – die Kunst der 8 Gliedmaßen
Das Wichtigste passiert jedoch im Ring. Bei maximal fünf dreiminütigen Runden erreichen die Kämpfer fast jedes Körperteil. Nur der Hinterkopf und Unterleib sind tabu. Jede Schwäche wird bestätigt. Es ist kein Platz für vielleicht spektakuläre, aber im wirklichen Kampf praktisch nutzlose Sprünge und Akrobatik. Energie wird nicht verschwendet. Schläge und Tritte werden dosiert eingesetzt, sind dafür aber präzise und stark. Das im Stadion laut vernehmbare Klatschen eines Kicks gegen die Arme des Gegners – sodass nicht nur die Ringrichter und das Publikum es bemerkt, sondern auch der Gegner fühlt.
Um einen Gegner auf die Bretter zu schicken stehen dem Thaiboxer eine viel breitere Auswahl an Techniken zur Verfügung als den Meistern anderer Stile. Neben traditionellen Waffen, die in verschiedenen Kampfkünsten verwendet werden, z. B. Fäusten und Füßen, können wir in Muay Thai auch die Knie und Ellbogen einsetzen. Muay Thai in der Übersetzung bedeutet „thailändischer Kämpfer“ und wird oft als „die Kunst der 8 Gliedmaßen“ (in der Tat gilt Muay Thai in Thailand als Kunst) bezeichnet. Zwei Fäuste, zwei Ellbogen, zwei Füße/Schienbeine und zwei Knie – zusammen acht Argumente, die ein Thaikämpfer gegen seinen Gegner bringen kann. Ihr wirkungsvoller Einsatz bedeutet, dass ein hoher Prozentsatz der Kämpfe mit einem Knockout endet und viele Boxer auf einer Bahre aus dem Ring getragen werden.
Die Tritte mit dem Schienbein, die verbunden mit einer Hüftrotation den berühmten Thai-Kick ausmachen, zielen auf die Oberschenkel, die Flanken, Arme und den Kopf des Gegners mit der Kraft eines Baseballschlägers. Auf kurze Distanz, im Nahkampf, wenn es keine Möglichkeit gibt, den Schlag mit der Faust auszuführen, kommen gnadenlos wirksame sichelartige Schläge mit dem Ellenbogen zum Kopf zum Einsatz, die, wenn sie richtig eingesetzt werden, die Haut wie Papier schneiden können. Nicht selten findet ein Kampf sein jähes Ende in einem Knockout nach Ellbogentreffer, bei dem der Sieger als Belohnung eine Extraprämie für jeden Stich, mit dem der Verlierer genäht werden muss, erhält. Und wenn die rauschenden Gegner aufeinandertreffen, gehen sie in den Clinch, das heißt sie packen ihre Hälse und versuchen, den Kopf des Gegners in Richtung ihrer Knie zu ziehen (um dies zu verhindern, trainieren sie Ihre Nackenmuskulatur mit einem 12 Kilogramm schweren Gewicht) oder die Rippen und Oberschenkel des Gegners mit den Knien zu traktieren. Wo ein gewöhnlicher Boxer sich sicher fühlt, muss ein Muay Thai-Kämpfer auf die Rippen achten, damit sie nicht von einem heranfliegenden Knie des Gegners getroffen werden. Ein Knockout wird angestrebt, denn dafür gibt es nochmal eine Extraprämie. Ebenfalls kann man den Gegner aus dem Gleichgewicht bringen und niederwerfen, was durch Ausnutzen geschickter Hebel- und Wurftechniken oft auch aus dem Clinch heraus gelingt. Wenn man es schafft, selbst deutlich stehenzubleiben, oder der Gegner einen mit sich zu Boden reißt, man aber on-top landet, wird das als Zeichen der eigenen Dominanz gewertet.
Thailand ist eines der reichsten Länder Südostasiens, aber das Leben dort kann schon hart und brutal sein. Für viele Jungen aus armen Familien – viele der besten Muay Thai-Boxer kommen aus der zwar größten, aber trotz leichter Verbesserung der Lage in den letzten Jahren immer noch bettelarmen Region, dem vorwiegend agrarisch geprägten Isan im Nord-Osten Thailands – ist Muay Thai die einzige Chance, aus der Armut auszubrechen. Der Anblick von zwei Zehnjährigen, die ihre Fäuste im Ring hochhalten, kann einen deprimierenden Eindruck machen. Es ist jedoch unmöglich, sie nicht zu bewundern – mit ihrer technischen Ausbildung und ihrem Enthusiasmus. Alles ist eine Frage der Motivation – die Fernsehübertragungen der Kämpfe, die im berühmten Lumpini-Stadion in Bangkok ausgetragen werden, wecken die Träume vieler thailändischer Jungen und 60.000 Boxern in diesem stolzen 69-Millionen-Land. In der Hoffnung, dass die Söhne früh die Familie finanziell unterstützen, geben ihnen die Eltern Namen wie Bank, Superbank oder Baht, und es rührt einen fast zu Tränen, wenn einem ein 8-jähriger Junge stolz berichtet, dass er von den 60 Baht (umgerechnet circa 1,50 Euro), die er für seinen ersten Kampf erhalten hat, 20 für sich behalten, und 40 der Mutter gegeben hat, und so zum ersten Mal in seinem Leben zum Familieneinkommen beitragen konnte. Ganz anders die Motivation Zehntausender Muay Thai-Touristen, die es sich leisten können, jedes Jahr aus allen Erdteilen ins Mutterland des Thaiboxens zu strömen, um in den unzähligen Trainingszentren Muay Thai zu lernen. Thaiboxen erlebt seit ein paar Jahren einen Boom – aus Europa kommen die bei weitem meisten Lernwilligen aus England, gefolgt von Frankreich und mit etwas Abstand Deutschland. Auch Osteuropäer und Skandinavier sind rege vertreten. Auf Nord- und Südamerikaner, Australier und Israelis trifft man zuhauf. Die Tourismusindustrie hat sich schnell auf diesen Boom eingestellt und spezielle Reiseveranstalter bieten gleich ganze Pakete mit Flug, Unterkunft und Training an. Viele reisen auch zum Nai Khanom Tom Day, der jedes Jahr in Ayutthaya stattfindet und nehmen an den dortigen Zeremonien teil.
Muay Thai – Freude am Kampf
Manchmal wird der Kampf durch den Gong beendet, manchmal durch einen heftigen Schlag auf den Kiefer. Der Ringrichter gibt den Gewinner bekannt und die Teilnehmer – sofern sie noch in der Lage sind – verbeugen sich mit einem Lächeln voreinander und fallen sich in die Arme. Es ist schwer zu glauben, dass sie noch vor ein paar Momenten versucht haben, die Beine des jeweils anderen zu zerstören. Dies ist ein weiteres Element, das Muay Thai vom klassischen Boxen unterscheidet. Noch vor dem Kampf sitzen die Kämpfer Seit an Seit im Publikum und beobachten die Ereignisse im Ring oder lassen sich im Vorbereitungsraum in beinahe lockerer, keinesfalls durch den bevorstehenden Kampf angespannter Atmosphäre, bandagieren und massieren. Das spezielle Öl, das den Thaiboxern dabei tief in die Haut einmassiert wird – Namman Muay Thai Öl – ist eine Mixtur aus Salicylsäuremethylester (auch als Wintergrünöl bezeichnet) und Menthol. Es riecht intensiv, anregend, und hat eine anästhetische Wirkung. Nach dem Duell gratulieren sie sich, tauschen Lob aus und gehen in die Ringecke des Gegners, um dessen Trainer ihren Respekt zu bekunden. Im Gegenzug bekommen sie von ihm einen Schluck Wasser und eine Danksagung. Ein anerkennendes Nicken, begleitet von einem Lächeln voller Anerkennung erscheint oft während des Kampfes – wenn einer der Boxer eine wirkungsvolle Aktion ausführt, kann der andere trotz seines Schmerzes die Kunst des Gegners schätzen.
Es gibt keinen Raum für unkontrollierbaren Ärger oder Hass im Muay Thai. Vielleicht scheinen die Regeln für den Außenstehenden recht brutal zu sein, aber es gibt einige Regeln, die für beide im Ring gelten: Für den Sport, nicht für den Sieg auf Teufel komm raus! Ehrgeiz? Ja. Bereitschaft zu gewinnen? So viel wie möglich! All dies ist jedoch dem zugrundeliegenden Lebensstil in Thailand untergeordnet, der vorgibt, dass alles, was wir tun, mit Sanuk – Freude gefüllt sein muss. Auch das Konzept von Len (Spiel), alles wird irgendwie spielerisch betrachtet, auch „bpai len muay thai“ (wörtlich: wir gehen Thaiboxen spielen) und Bpai dthiaou – dem „Ausgehen zum Vergnügen“ -, dem so viel Beachtung im thailändischen (Familien-)Leben geschenkt wird, spielt eine Rolle bei dieser zugrundeliegenden Philosophie. Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, warum sich die Jungen so verhalten, lernen sie doch schon von früher Kindheit an, sich in den Dienst der Gemeinschaft in der Familie und der Gemeinde zu stellen, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. In den ersten Schuljahren steht dies im Hauptfokus der Erziehung der Kinder. Beständig wird wiederholt: Für Thailand, die Gemeinschaft, Respekt vor Älteren und Ranghöheren (Thailand ist eine Gesellschaft mit streng hierarchisch geprägter Ordnung) und Anerkennung der Leistung anderer.
Muay Thai – blutiger Sport oder Kunst?
Brutal und absolut? Ja, aber nicht ausschließlich. Um zu sehen, dass Muay Thai nicht geistlos ist, ein blutiges Gemetzel – und ja, es fließt oft viel Blut – lohnt es sich, Live-Events anzusehen, vorzugsweise in Thailand und dort am besten in den großen Stadien Bangkoks wie Lumpini und Rajamadnern (in den großen Tourizentren sind die Kämpfe meist eher von zweifelhafter Qualität), wo die Besten der Besten gegeneinander antreten. Wer in Lumpini oder Rajamadnern kämpft und gewinnt, darf sich „Muay Thai Champion“ nennen, was der Traum eines jeden thailändischen Jungen ist, von dem Punkt an, an dem er mit dem Training begonnen hat. Viele fangen übrigens sehr früh mit dem Training an, ab dem Alter von 5, 6, 7, 8. Und wenn sie mit 25, auf dem Zenit ihrer Leistungsfähigkeit aufhören, habe sie nicht selten über 150 oder 200 Kämpfe geleistet.
„Das Thai-Boxen ist offensiver als andere Kampfkünste“, sagt Thaddäus Sienczak, der die Sportschule Asia in Ratingen – mein Heimat-Gym – leitet, und die Techniken des Muay Thai in seinen Kursen vermittelt. „Muay Thai konzentriert sich auf die authentische Wirksamkeit von Schlägen und Tritten. Daher ist die Bewegungsmechanik so ausgelegt, dass sie maximale Stärke erhalten.“ Eine weitere Besonderheit ist, dass die Defensive des Thaiboxers zugleich dazu dient, unmittelbar in den eigenen Angriff überzugehen. „Eine eigentliche Trennung zwischen Angriff und Verteidigung gibt es somit vielfach nicht“, so Sienczak weiter.
Es gibt Kampfkünste, in denen Punkte für jeden Treffer erzielt werden. Aber nicht im Muay Thai. Hier soll der Thaiboxer den Gegner nicht nur treffen, sondern ihm auch möglichst Schmerzen zufügen und – und das ist das wirklich Wesentliche – seine Dominanz gegenüber dem Gegner zum Ausdruck bringen. Muay Thai ist das Zurschaustellen von Maskulinität und Härte, Ruhe, Aggression und Balance. Die hohe, aufrechte Position, in der der Thaiboxer steht, versinnbildlicht dies. „Muay Thai ist Stolz und Stärke“, sagte mir mein thailändischer Trainer und korrigierte dabei anfangs immer wieder meine Haltung, die auch von der eher gebückten Haltung des klassischen Boxers abweicht, weil der Kopf sonst leicht von Tritten und Knien getroffen werden könnte. Zudem achtete er penibelst auf Balance, was ich anfangs für eine Marotte hielt, mir später aber umso mehr einleuchtete. Außer bei Sprüngen, die ja auch eher rar sind, sind auch selten beide Füße zugleich in der Luft. Mal davon abgesehen, dass ein guter Gegner Schwächen bei der Balance rigoros bestrafen würde und einen zum Beispiel leicht aushebeln könnte, ist es entscheidend, dass man nach einer Aktion direkt wieder in seine stabile Auslage zurückkehrt. Damit zeigt man, dass man die Kunst Muay Thai beherrscht und volle Kontrolle über sich und seinen Körper hat. Mehr noch: eine gelungene Aktion wird nicht gewertet, wenn man danach auch nur für einen Moment leicht wackelt, oder sich korrigieren muss, um die Balance wiederzuerlangen. Mit dem, ich kann es leider nicht anders sagen, albern wirkenden Rumgehüpfe aus dem westlichen Kickboxen, ist es unmöglich in Thailand einen Kampf zu gewinnen, es sei denn natürlich man schlägt den Gegner vorher KO. Die Ringrichter würden sonst nämlich einhellig entscheiden: „Er hat keine Ahnung von Muay Thai“ und den Sieg immer dem Gegner zusprechen!
Der Thaikämpfer zeigt im Kampf keine Emotionen, was auch anders gänzlich unmännlich wäre. Übrigens gelten diese Regeln auch für Frauen (Frauen-Muay Thai und die Rolle der Frau im Muay Thai ist jedoch noch einmal ein ganz anderes Thema und würde dazu führen, dass der Text hier jetzt wirklich viel zu lang würde). Auch wenn er getroffen wird, verrät sein „Pokerface“ keinen Schmerz. Sollte er aber mal von einem heftigen Schlag auf dem Canvas landen, sieht man oft, wie er direkt danach aggressiv zurückkommt, um das Gleichgewicht – der Gegner hat über ihn dominiert – wiederherzustellen. Dieser Umstand lässt sich auch mit der fast panischen Angst der Thailänder erklären, „das Gesicht zu verlieren“. In schwierigen (Alltags-)Situationen gilt es, die Ruhe zu bewahren, man hört dann ein mai bpen rai (macht nichts) oder mai mi bpan haa (kein Problem), und sollte mal jemand aus der Haut fahren, wird häufig gekichert und gelacht, wirklich belustigt, oder eher peinlich berührt, denn – da ist ja gerade jemand dabei sein Gesicht zu verlieren. Ein kleiner Tipp am Rande: Beleidigen Sie nie einen Thailänder, bringen sie ihn nicht dazu, sein Gesicht zu verlieren, sie könnten es sonst (schmerzhaft) bereuen! „When you get kicked, you kick back“ ist einer dieser Merksätze, die man als erstes gesagt bekommt, wenn man den Sport erlernt und schnell verinnerlichen sollte. Und so gleicht ein Kampf zweier Boxer einem wechselseitigen Austausch von Schlägen und Tritten, immer dem Bestreben nach Dominanz und zu eigenen Ungunsten verschobenes Ungleichgewicht am besten sofort wieder zu auszugleichen.
Typischer Ablauf eines Muay Thai Kampfes
Runde 1 beginnt in aller Regel, wie die Musik, in einem gemäßigten Tempo, was manchmal noch eine Übertreibung darstellt. Hier mag es für den Touristen oder den Laien unter den Zuschauern so aussehen, als wollten beide Kämpfer den Gegner nicht wirklich dominieren oder am Ende besiegen. Wo Thaibox-Kämpfe in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Deutschland, von der ersten Sekunde an einem zum Teil wilden und auch unkontrollierten Drauflosgehaue und -getrete gleichen, vielleicht auch aus dem Grund, dass die beiden Kämpfer auch einfach zu nervös sind und viel zu viel Angst voreinander haben, um zunächst einmal abwartend zu agieren und eher ein schnelles Ende erzwingen wollen, sieht das in Thailand komplett anders aus. Die maximal fünf Runden á jeweils drei Minuten Länge sind vom Ablauf her zumeist folgendermaßen aufgebaut beziehungsweise unterliegen Gesetzmäßigkeiten, die für die drei Ringrichter bei der Bewertung der einzelnen Runden und der Betrachtung der Frage, wer als Gewinner aus dem Kampf hervorgeht, entscheidend sind.
Warum es für den ausländischen Boxer wichtig ist, sich mit dem Aufbau eines Kampfes und den zugrundeliegenden Scoring Principles zu beschäftigen, liegt bei aller Unterschiedlichkeit des Bewertungssystems (Thailand – Rest der Welt) auf der Hand. Will er ein Gefühl dafür entwickeln, ob er derzeit vorne liegt, oder es noch nicht reicht, und er (gegen Ende) noch nachsetzen muss, sollte er, oder zumindest sein Trainer Bescheid wissen und am besten auch noch etwas Erfahrung mitbringen. Die Art, wie thailändische Ringrichter bewerten, ist aus der Tradition heraus gewachsen und verändert sich mit dem Sport, das heißt in den 70ern wurde anders gekämpft wie in den, zum Beispiel, 90ern und heute, mit dem Fokus weniger auf Technik als noch im Golden Age, sondern mehr auf Power und häufigen Auslagewechseln, wieder anders, und entsprechend anders bewertet. Interessant hierzu ist auch, wie sich Stephan Fox, Generalsekretär der IFMA, Gedanken zu einer Vereinheitlichung der Bewertung macht, sollte Muay Thai irgendwann einmal olympisch werden, denn dann sind Kampfrichter aus allen Ländern beteiligt. Runde 1 lässt sich vielleicht gut mit einem Abtasten umschreiben und hat auf den Gesamtsieg wenig Einfluss. Tritte, meist der nach vorn gerichtete teep kick (Frontkick oder Stopptritt) kommen zur Anwendung und einfache Schläge oder Kombinationen werden ausgetauscht. Abstände zum Gegner werden gecheckt, ein gemeinsamer Rhythmus gefunden und Techniken gegenseitig, die den Kämpfern auch Aufschluss über den weiteren Kampfverlauf geben können, präsentiert. Oft wird in der ersten Runde aber auch hinsichtlich der Techniken geblufft. Trotz alledem werden die Tritte und Schläge in Runde 1 schon mit vollster Härte und Präzision ausgeführt. Runde 1 ist ebenfalls für die Kämpfer wichtig, um sich den Ringrichtern, Zuschauern und Wettern direkt von Anfang an bestmöglich zu präsentieren und gut auszusehen. Oft landet ein Schlag mit voller Wucht im Gesicht. Schafft es der Thaiboxer dann, sich völlig unbeeindruckt zu zeigen und lächelt vielleicht sein Gegenüber mit leicht verhöhnendem Gesichtsausdruck sogar an, als wolle er ihm sagen: „Schau mich an! Du kannst mir hier und heute gar nichts!“, gewinnt er womöglich die Gunst der Ringrichter. Verrückter Gedanke, nicht wahr? Man kassiert einen heftigen Treffer, zieht so aber sogar noch Profit daraus!
In Runde 2 nimmt der Kampf allmählich Fahrt auf. Thai-Kicks, Kombinationen aus Fäusten und Tritten, die Kämpfer gehen in den Clinch. Runde 3 und 4 sind oft die aktionsreichsten, prägenden, die entscheidenden Runden. Eine deutlich dominant gewonnene 3. und 4. Runde kann eine verlorene 1. und 2. Runde komplett vergessen machen! Man liegt dann in Führung und muss diese in Runde 5 eigentlich nur noch über die Zeit bringen. Dies ist nebenbei auch der Grund, weshalb Zusammenfassungen von Kämpfen im Fernsehen oft erst ab Runde 3 einsetzen, von da an aber in voller Länge gezeigt werden. Was man oft in Runde 5 sieht, wenn einer der Kämpfer oder auch beide – das kommt vor – sich sicher zu sein scheinen, vorne zu liegen, ist, dass sie nicht oder nur noch ganz sporadisch angreifen und ungefähr nach der Hälfte der absolvierten Runde bis zum Schlussgong hin „austanzen“, das heißt in sicherem Abstand vom Gegner zur Musik tänzelnd, gelegentlich die Arme als Zurschaustellung der Gewissheit des sicheren Sieges hebend, das Kämpfen eigentlich einstellen. Das Ausbleiben der Pfiffe und Buh-Rufe im Publikum war für mich, als ich dies das erste Mal bei Kämpfen beobachtet habe, ob dieser scheinbaren Verweigerungshaltung der Boxer zum Schluss des Kampfes, das eigentlich Erstaunliche, sind wir es doch gewohnt, dass ein Sportler, oder eine Mannschaft, ob scheinbar uneinholbar in Führung liegend, oder aussichtlos hinten, immer bis zum Ende fightet, und somit „wahren Sportsgeist“ beweist. Im Muay Thai wäre es aber sogar fahrlässig in der fünften Runde mit weiteren Angriffen zu protzen, denn, hey, ein Lucky Punch des Gegners kann immer mal passieren und man findet sich ausgeknockt auf den Brettern, die die Welt bedeuten wieder, oder verletzt sich so stark, dass man nicht mehr weiter kämpfen kann. Genau so würde es von den Ringrichtern ausgelegt – indem man den Sieg fahrlässig aufs Spiel setzt, erkennen sie auch hier: „Er kennt kein Muay Thai, also hat er den Sieg nicht verdient“ und werten den Kampf als verloren. Auch einen Abbruch am Ende der vierten Runde durch den hoffnungslos hinten liegenden, habe ich schon erlebt. Es ist weniger ein feiges Kapitulieren, sondern vielmehr das Anerkennen des Sieges des anderen und das Eingeständnis an sich selbst, mehr trainieren zu müssen, um erfolgreicher zurückzukommen.
Um zuvor beschriebenes an einem Beispiel zu verdeutlichen: Der letzte Kampf, den ich gesehen habe, war zugleich der letzte Kampf des Abends an einem Tag im April dieses Jahres. Zwei Thais traten gegeneinander an, der Favorit, wie immer in roter, der Herausforderer in blauer Hose. Rot ging voran und ließ von Anfang an keinen Zweifel daran, dass er die bessere Technik besitzt und auch in der Lage ist, sie variabel und variantenreich einzusetzen. Ab spätestens der zweiten Runde wurde aber für jeden auf den Rängen sichtbar, dass Blau heute Abend ein großes Kämpferherz besitzt, da er immer mal wieder mutig offensiv agierte und selbst gute Aktionen startete. Darüber hinaus begann er damit, Rot immer wieder in den Clinch zu zwingen, aus dem dieser sich schnell zu befreien versuchte, denn da fühlte er sich nicht wohl. Im Clinch war Rot Blau hoffnungslos unterlegen. Auch in Runde 3 und 4 gekonnt-starke Aktionen von Rot mit denen er seinen Favoritenstatus gerecht wurde. Aber auch gute Kombinationen und Kicks von Blau. Doch vor allen Dingen immer wieder erfolgreiche Versuche, Rot in den Clinch zu bekommen. Und da geschah für das Publikum etwas Erheiterndes. Er schaffte es in Runde 3 – und noch häufiger in Runde 4 – immer wieder mit Rot im Clinch halb in den Seilen liegend, Rot in eine solche Position zu manövrieren, dass er ihm sein Knie wiederholt ins Hinterteil rammen konnte. Gejohle unter den Zuschauern, die meisten unter ihnen Touristen! Die Wetter drehten durch! Rot machte einen fast verzweifelten Eindruck, gelang es ihm doch immer erst nach einiger Zeit, sich aus dieser Position und dem Clinch an sich zu lösen, und es war unter den Zuschauern klar, wer jetzt die Oberhand hatte und führend in die letzte Runde gehen sollte. Denn, was ist demütigender fürs Gegenüber und zugleich der Ausdruck von Dominanz schlechthin, als Tritte in den Allerwertesten, dies ist, denke ich mal, in allen Kulturen gleich 😉 Blau war also in Gewissheit darüber, dass er, wenn auch nicht allzu hoch, als Führender in die 5. Runde ging, denn im übrigen Kampfverlauf, ausgenommen Clinch, war Rot, wie gesagt, schon besser und hatte mehr klare Aktionen.
Runde 5 begann relativ passiv von beiden Kämpfern. Schnell begann Blau auszutanzen und reckte dabei immer wieder die Arme in die stickige Hallenluft. Rot tat es ihm gleich, nicht aber, weil er fälschlicherweise annahm, dass er in Führung läge, sondern um trotzig zu demonstrieren, dass er immer noch der Favorit ist, der Anrecht auf den Sieg hat. Dass er hinten lag und noch einiges unternehmen müsste, um den Spieß umzudrehen, wusste er nur allzu gut. Und so begann Rot während der letzten zwei Minuten fünf bis sechs Mal überfallartig und äußerst aggressiv anzurennen. Dies gelang ihm auch in effektiver Art und Weise und Blau reagierte beinahe hilflos, denn es fehlten ihm die Mittel, die Angriffe abzuwehren. Es war diese Art von Aggressivität, wie jene oben beschriebene, die oft als Reaktion nach einem harten Niederschlag zu beobachten ist. Hier war es die Reaktion von Rot auf das, was ihm in den beiden Runden zuvor widerfahren war. Ein Knockout kurz vor Schluss gelang ihm jedoch nicht und so stellte sich mit dem Schlussgong die Frage, wen die Ringrichter als Sieger bestimmen würden. Hatte es Rot am Ende geschafft, „sein Gesicht wiederzuerlangen“? Nun, ja. Der Kampf wurde als ein Unentschieden gewertet, eine Entscheidung, die ich, wie gefühlt die meisten unter den Zuschauern als gerecht empfanden. Eine Gruppe Engländer, die hinter mir saßen, und mit denen ich mich hinterher unterhielt, teilten jedenfalls meine Ansicht.
Besiege dich selbst oder „You learn to Win, Lose, and Forgive“
Ich bin kein aggressiver Typ. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe noch nie gegen jemanden gekämpft, sieht man mal von der ein oder anderen Schulhof-Keilerei ab. Was mache ich also im Boxring und trainiere eine der brutalsten Kampfkünste, in der der Gegner während des Duells keinen Platz für Mitleid findet? Ich lerne auch zu gewinnen und vielleicht vor allem gegen mich selbst.
„Muay Thai, der wie körperliche Erholung behandelt wird, kann jeder gesunde Mensch ausüben“, sagt Trainer Sienczak von der Sportschule Asia. „Beim Training wird kein vollständiger Kontakt mit dem Schlag im vollen Sinn des Wortes gebraucht. Muay Thai lässt sich behandeln wie eine Wissenschaft der Selbstverteidigung und als eine Möglichkeit, Gewicht zu reduzieren, an Kraft und Ausdauer zuzulegen.“
Nur weil Training nicht brutal ist, heißt das nicht, dass es einfach ist. Im Gegenteil – nach den ersten Trainingseinheiten bin ich fast auf allen Vieren unterwegs. Es beginnt mit einem intensiven Aufwärmen – Laufen, Boxerlauf, Aufwärmen der Gelenke, Dehnen, Seilspringen. Nach guten zwanzig Minuten mangelt es an Atem und Kraft in der glühenden Mittagshitze Thailands, der Schweiß tropft nur so von mir herab und der erste Liter Wasser ist auch schon auf. Glücklicherweise gibt es nicht einmal einen Moment, um darüber nachzudenken – schon findet sich man mit dem Trainer zusammen, und beginnt, die Technik zu üben. Muay Thai-Training ist ein totales Training. Man gewinnt an Kraft, Aktionsschnelligkeit und Flexibilität.
Aber Training gilt nicht nur dem Körper – der sich durch das regelmäßige Training in den Tropen sehr zum Positiven verändert – sondern auch dem Geist. Das Gefühl der inneren Stärke, wenn Sie mit erhobenen Fäusten vor einem kampfbereiten Gegner stehen, lässt sich mit nichts anderem vergleichen. Die Seele des Muay Thai-Kriegers ist eine echte Charakterschule.
Im Ring gegenüber einem wütenden Gegner zu stehen, erfordert viel Mut und Entschlossenheit. Im Kampf werden die Probleme des Alltags trivial und sie gewinnen viel an Selbstvertrauen.
Ich werde hin und wieder gefragt: „Kann ich zu Hause Kampfsport betreiben?“ Es kann nur eine Antwort geben – nein. Das Training, vor allem Sparring mit einem Partner, ist der einzige Weg, um wichtige (Re-)Aktionsgeschwindigkeit zu entwickeln und die Techniken situationsangemessen anzuwenden. Keiner, auch der beste Boxsack kann einen Live-Gegner ersetzen, der Schläge meidet und versucht auszuteilen.
Es gibt keinen Mangel an Schulungsvideos auf DVD und Tutorien auf YouTube und ich schaue und lese sehr viel und kann das nur jedem empfehlen. Vor allem, wenn man schon etwas fortgeschritten ist (dann nimmt man die gezeigten Inhalte nach meiner Erfahrung besser auf und kann sie besser für sich nutzbar machen), ist dies eine großartige Möglichkeit, sich von zu Hause aus weiterzuentwickeln. Aber auch ein Trainer ist wichtig, der Fehler korrigiert und schlechte Gewohnheiten verhindert. Im Techniktraining führen wir die Techniken langsam und präzise aus, mit viel Liebe zum Detail. Nur so wird der Schlag, der im wirklichen Kampf zugefügt wird, den richtigen Schwung bekommen und der Verteidigung des Gegners Schaden zufügen. Die während des technischen Trainings gesammelten Techniken finden im Sparring Anwendung. Sparring ist immens wichtig und sollte Teil jeder Trainingseinheit sein. Hier muss man sich nicht mehr viel bremsen, die Schläge werden – vereinbarungsgemäß – mit bis zu 80 bis 90-prozentiger Kraft ausgeführt. Blaue Flecken sind im Muay Thai-Training die Regel, und es dauerte noch länger, sich an die Schmerzen zu gewöhnen, die das Schienbein durchbohrten, wenn es mit dem eines Partners kollidierte. Es tut weh, ja, aber dieser Schmerz ist in ihrem Kopf – mit der Zeit werden sie lernen, ihn zu kontrollieren. Shin Conditioning ist ein wichtiges Element, bei der die Knochendichte zunimmt und die Nerven im Schienbein mit der Zeit abgetötet werden.
Obwohl die Schmerzen im Schienbein immer noch sehr akut sind und der Atem noch vor Ende des Trainings knapp wird, habe ich noch immer geschlagen, als ob mein Leben davon abhinge. Wer weiß schon, vielleicht wird dies eines Tages geschehen? Für jeden, der jemals irgendeine Form von Kampfkunst praktiziert hat, muss eines Tages ein Gedanke gewesen sein, ob das, was er geübt hat, in einer realen Gefahrensituation funktionieren würde. Ich denke, dass das Thaiboxen im wirklichen Leben am besten von allen Formen der Selbstverteidigung geeignet ist. Dank frontaler Tritte können sie Abstand halten und sehr effektive Waffen verwenden – Knie und Ellbogen. Nicht geschulte Kämpfer können keine in einem Clinch-Kampf trainierten Personen bewältigen. Unterschätzen Sie den Fitnessaspekt nicht – nützlich, auch wenn man sich statt eines Kampfes in die Flucht begibt. „The best fight is not to fight at all“, diesen Satz hört man viel, und er leuchtet ein, auch wenn die Versuchung, die eigenen Fähigkeiten in der Praxis zu testen, manchem unwiderstehlich erscheint.
Man muss sich nicht einbilden, dass man eines Tages genug gelernt hat und mit dem harten Training aufhören kann. Das wäre ein tröstlicher Gedanke, doch Training hört nie auf, geht immer weiter und idealerweise nach vorn. Die Frage ist: Bist Du besser als du es gestern noch warst? Kannst du heute mehr Schritte gehen als gestern? Jedoch manchmal muss man einen Schritt zurück machen, um anschließend zwei nach vorn zu gehen. Es gibt wohl keinen ernsthaften Kampfsportler, der nicht hin und wieder nach einem schlechten Training frustriert nach Hause geht und sich Gedanken macht, ob das alles noch einen Sinn hat. Ich hatte das allzu oft. Mittlerweile bin ich aber an einem Punkt angelangt, an dem ich mich dann zu mir selbst sage: „Es ist ok! So wie es heute ist, ist es ok. Finde dich damit ab und sei zufrieden.“
Muay Thai ist Lifestyle, ständige Herausforderung, eine kreative Auseinandersetzung mit sich selbst, zieht sich durch sämtliche Lebensbereiche und verändert einen als Mensch teilweise radikal. Ehrfurcht vor all dem, was noch vor einem liegt, und die Erkenntnis, dass man wahrscheinlich nie Master-Level erreichen wird. Und dennoch: Muay Thai hat das Potenzial jeden dazu zu bringen, zu erkennen, dass man Mauern einreißen und Dinge schaffen kann, die man sich vorher nicht mal gewagt hat zu erträumen.